Regierungen haben weltweit mit beispielloser Intensität auf die COVID-19-Pandemie reagiert. Sie haben damit bewiesen, dass sie handlungsfähig sind und der Privatwirtschaft nicht das Feld überlassen müssen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Jetzt braucht es eine zweite Welle der politischen Reaktionen auf die Pandemie, die nicht nur auf die Erholung der Wirtschaft zielt, sondern vielmehr die global notwendigen systemischen Veränderungen in Gang setzt. Ein Blog-Beitrag von Jens Martens.
November 2, 2020 | GPF
8 Punkte für eine globale Agenda strukturellen Wandels in der COVID-19-Pandemie
Von Jens Martens
Regierungen haben weltweit mit beispielloser Intensität auf die COVID-19-Pandemie reagiert. Sie haben damit bewiesen, dass sie handlungsfähig sind und der Privatwirtschaft nicht das Feld überlassen müssen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist. Jetzt braucht es eine zweite Welle der politischen Reaktionen auf die Pandemie, die nicht nur auf die Erholung der Wirtschaft zielt, sondern vielmehr die global notwendigen systemischen Veränderungen in Gang setzt.
Building back better?
In zahllosen Erklärungen haben die meisten Regierungen bekräftigt, dass eine Rückkehr zu business as usual nach der Krise keine Option sei. Stattdessen ist der Aufruf der UNO „Building back better“ zu einem Leitmotiv der internationalen Reaktionen auf die COVID-19-Krise geworden. Aber führt „Building back“ wirklich zu dem dringend notwendigen strukturellen Wandel?
In der ersten Phase enthielten viele der COVID-19-Notfallprogramme soziale Komponenten, die (mehr oder weniger gezielt) darauf gerichtet waren, Unterstützung für bedürftige Familien zu leisten, Arbeitslosigkeit zu verhindern und kleine Betriebe finanziell am Leben zu erhalten. Doch abgesehen davon, dass selbst diese insgesamt riesigen Geldsummen den weltweiten Anstieg von Arbeitslosigkeit, Armut und Unternehmenskonkursen nicht verhindern konnten, droht die Wirkung der Ad-hoc-Maßnahmen schnell zu verfliegen, wenn die Unterstützung ausläuft. Die soziale Katastrophe kommt dann lediglich mit Verzögerung. Darüber hinaus spielten ökologische Ziele in der ersten Phase der COVID-19-Reaktionen kaum eine Rolle. Die meisten wirtschaftlichen Hilfspakete waren ökologisch blind und ignorierten die strukturellen Ursachen und Interdependenzen von Gesundheits-, Wirtschafts- und Klimakrise.
Umso wichtiger ist es, dass jetzt, mit der zweiten Welle der politischen Reaktionen auf COVID-19, die längerfristigen Konjunkturpakete nicht allein auf die wirtschaftliche Erholung abzielen, sondern vielmehr die notwendigen systemischen Veränderungen fördern. Richtig konzipiert, böten solche Konjunkturprogramme die Chance, zu Motoren der sozial-ökologischen Transformation zu werden, wie sie in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung proklamiert wird.
Eine 8-Punkte-Agenda für den strukturellen Wandel
Als Antwort auf die COVID-19-Krise startete das Weltwirtschaftsforum die Initiative eines „Great Reset“ des Kapitalismus. Aber wenn man die Reset-Taste drückt, wird das Spiel einfach neu gestartet, ohne die Spielregeln – oder gar das Spiel selbst – zu ändern. Die Reset-Taste löscht den Speicher und startet das (alte) System neu, ein System, das die aktuellen Krisen eher verursacht als verhindert hat.
Unser Bericht Spotlight on Sustainable Development 2020 schlägt als Alternative zum „Great Reset“ des Weltwirtschaftsforums eine 8-Punkte-Agenda für den strukturellen Wandel vor. Die acht Punkte stellen kein umfassendes Reformprogramm dar. Vielmehr illustrieren sie kurz und bündig acht Themenbereiche, in denen nicht nur Politik- und Governance-Reformen, sondern auch Veränderungen in den zugrunde liegenden Narrativen überfällig sind:
1. Fürsorge– und Pflegearbeit aufwerten
Die Corona-Pandemie hat drastisch gezeigt, wie wichtig die Fürsorge- und Pflegearbeit für die Gesellschaften ist. Aber bisher leiden Pflegekräfte meist unter schlechten Arbeitsbedingungen und sind häufig unterbezahlt. Zusätzlich übernehmen überwiegend Frauen die unbezahlte Fürsorge- und Pflegearbeit zu Hause und müssen dadurch massive Mehrfachbelastungen bewältigen. Die Pflegeberufe müssen daher gesellschaftlich aufgewertet, arbeitsrechtlich gestärkt und besser bezahlt werden. Außerdem muss die öffentliche Pflegeinfrastruktur ausgebaut und adäquat finanziert werden.
2. Öffentliche Güter und Dienste stärken
Über Jahrzehnte wurden öffentliche Güter- und Dienstleistungen in vielen Ländern unterfinanziert, ausgelagert und privatisiert. Die Corona-Krise hat vor Augen geführt, wie wichtig sie für das Funktionieren von Gesellschaften sind. Das gilt nicht nur für den Gesundheitssektor, sondern auch für Bereiche wie die Wasser- und Energieversorgung, den öffentlichen Transport und die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums.
Steuerreformen und die Umschichtung öffentlicher Ausgaben müssen sicherstellen, dass diese Bereiche künftig besser finanziert werden. Privatisierungen und öffentlich-private Partnerschaften (PPPs) haben sich häufig als teure Irrwege erwiesen. Die bemerkenswerte Welle der Re-Kommunalisierungen in mehr als 2.400 Städten in 58 Ländern zeigt, dass es machbar und populär ist, Dienstleistungen wieder unter öffentliche Kontrolle zu bringen.
3. Wertschöpfungsketten neu austarieren
Die Unterbrechung der weltweiten Güterströme infolge der Lockdown-Maßnahmen hat einmal mehr die Abhängigkeit vieler Volkswirtschaften von Rohstoffexporten und globalen Wertschöpfungsketten offenbart. Sie sind Ausdruck des vorherrschenden Modells globaler Arbeitsteilung, das die externen Effekte im Zusammenhang mit der Ausbeutung von Ressourcen und der weltumspannenden Warenzirkulation außer Acht lässt.
Die gegenwärtige Krise bietet die Gelegenheit, diese einseitig auf Exportwachstum ausgerichteten Entwicklungsstrategien zu überdenken. Im Kern geht es darum, das Gravitationszentrum von der globalen Wirtschaft zu regionalen Wirtschaftskreisläufen zu verlagern. Drei Eckpfeiler der damit verbundenen Transformation sind der Ausbau nachhaltiger lokaler Nahrungsmittelsysteme, die verstärkte regionale (oder subregionale) Zusammenarbeit zur Erhöhung der Binnennachfrage und Reformen im internationalen Handels- und Investitionsregime, um den politischen Spielraum für solche Maßnahmen zu erweitern.
4. Klimagerechtigkeit durchsetzen
Die mediale Präsenz der Corona-Krise darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die anderen globalen Krisen nicht über Nacht verschwunden sind. Das gilt auch für die Auswirkungen des Klimawandels, die die Armen, insbesondere im globalen Süden, überproportional treffen.
Klimagerechtigkeit erfordert in diesem Zusammenhang, dass die Staaten ihre Verpflichtung aus der Klimarahmenkonvention anerkennen, das Klima entsprechend ihren gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Fähigkeiten zu schützen. Insbesondere sollten die Länder des globalen Nordens den Abbau von Subventionen und die Verlagerung von Investitionen weg von der Exploration, Förderung und Produktion fossiler Brennstoffe vorantreiben. Sie sollten sich verpflichten, bis 2030 zu einer 100-prozentigen Nutzung sauberer und erneuerbarer Energien überzugehen. Schließlich sollten sie ihre öffentliche Klimafinanzierung bis Ende 2020 auf mindestens 100 Milliarden US-Dollar aufstocken und bis 2030 kontinuierlich erhöhen.
5. Wirtschaftliche Macht und Ressourcen umverteilen
Die Hilfs- und Konjunkturpakete, die von Regierungen und internationalen Institutionen geschnürt werden, können ein entscheidendes Mittel sein, um Einkommens- und Vermögensdisparitäten zu reduzieren. Ein wesentliches Instrument ist die Steuerpolitik, etwa in Form von Vermögenssteuern, Solidaritätssteuern oder einer Steuer auf übermäßige Gewinne („excess profits“), insbesondere von Unternehmen, die von der Corona-Krise profitierten.
Aber Umverteilung im Nachhinein reicht allein nicht aus, es muss auch um die Umverteilung von Macht und Ressourcen im Voraus gehen. Entscheidende „vorverteilende“ Politikbereiche sind in dieser Hinsicht die Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik sowie die Finanz- und Unternehmensregulierung.
6. Globale Finanzflüsse effektiv regulieren
Die weltwirtschaftliche Rezession infolge der Corona-Krise wird die öffentlichen Haushalte massiv belasten. Staatseinnahmen brechen ein, die in vielen Ländern unbewältigten Probleme der Steuerflucht und Steuervermeidung werden verschärft. Zur Deckung der Ausgaben bleibt meist nur eine höhere öffentliche Kreditaufnahme, auf die Gefahr hin, dass es zu neuen Schuldenkrisen kommt.
Nun rächt sich, dass nach der letzten globalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 notwendige Regulierungen und Reformen in der internationalen Finanzarchitektur versäumt wurden. Wesentliche Schritte wären die Einführung eines fairen und transparenten Staateninsolvenzverfahrens und die institutionelle Stärkung der globalen Steuerkooperation unter dem Dach der Vereinten Nationen.
7. Solidarischen Multilateralismus fördern
Zur Bewältigung der Corona-Krise wird immer wieder die globale Zusammenarbeit und die Stärkung des Multilateralismus beschworen. Häufig betreiben die Regierungen aber eher einen selektiven „Multilateralismus à la carte“.
Ein solidarischer Multilateralismus erfordert, Partei zu ergreifen gegen unilaterale Alleingänge und die Übermacht partikularer Wirtschaftsinteressen (auch wenn es die eigenen sind) und für eine Zusammenarbeit gleichberechtigter Staaten, bei der die Rechte der Menschen, um die es geht, im Mittelpunkt stehen. Dazu müssen diejenigen globalen Institutionen gestärkt werden, die die größte demokratische Legitimität besitzen.
Dies sind zuallererst die Vereinten Nationen. Aufwertung der Vereinten Nationen heißt aber auch, sie mit ausreichenden Finanzmitteln in Form verbindlicher Beitragsleistungen auszustatten, statt vom guten Willen freiwilliger Beitragszahler und dem finanziellen Druck einzelner Länder abhängig zu bleiben.
8. Entwicklung und Fortschritt neu messen
In der Agenda 2030 haben sich die Regierungen verpflichtet, Fortschrittsmaße für nachhaltige Entwicklung zu erarbeiten, die das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ergänzen (SDG 17.19). Diese Entscheidung basierte auf der Einsicht, dass mit dem Wachstum des BIP weder automatisch in gleichem Maße das Wohlergehen der Bevölkerung wächst noch Armut reduziert wird. Im Gegenteil: In vielen Ländern ging wirtschaftliches Wachstum einher mit größerer sozialer Ungleichheit und dem Raubbau an der Natur. Über ökologische Tragfähigkeit und soziale Gerechtigkeit gibt das BIP keine Auskunft.
Bei der Umsetzung dieses SDGs hat es auf politischer Ebene aber bisher kaum Fortschritte gegeben. Die Hauptbotschaft des noch immer vorherrschenden Entwicklungsparadigmas lautet, dass die Länder reicher, nicht nachhaltiger werden müssen, um die Leiter hinaufzuklettern und „entwickelt“ zu werden. Dieses Narrativ muss durch alternative Wohlstandsmaße ein für alle Mal überwunden werden.
Dieser Beitrag basiert auf der Zusammenfassung des Spotlight Reports 2020, der vom Arab NGO Network for Development, dem Center for Economic and Social Rights, Development Alternatives with Women for a New Era (DAWN), Global Policy Forum, Public Services International, Social Watch, Society for International Development und dem Third World Network – mit Unterstützung der Friedrich Ebert Stiftung – herausgegeben wird.
Der Blog-Beitrag erschien zuerst auf der Website des Arbeit&Wirtschaft Blog.